Das Goldene Buch

Helmut König

Das Goldene Buch der Stadt Aachen 1902 bis 1999

Vorwort

Das Goldene Buch der Stadt Aachen, das hier digitalisiert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, umfasst beinahe das gesamte 20. Jahrhundert. Die erste Eintragung stammt von Kaiser Wilhelm II. aus dem Jahre 1902. Die letzte Eintragung dokumentiert den Empfang zur Verleihung des UNESCO-Musikpreises am 19. November 1999. Mit dem Jahr 2000 hat die Stadt Aachen ein neues Goldenes Buch in Gebrauch genommen. Das Original des alten Goldenen Buches befindet sich heute im Depot des Suermondt-Ludwig-Museums und wird später in die Bestände des Stadtarchivs übergehen.

Goldene Bücher wurden in vielen deutschen Städten in der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingeführt. Die großformatigen Bücher sind aufwendig und prunkvoll gestaltet. Das ist auch beim Goldenen Buch der Stadt Aachen der Fall, das von der seinerzeit sehr renommierten Künstlerischen Werkstatt für Lederarbeiten Georg Hulbe in Hamburg angefertigt wurde. Das Frontispiz im zeitgenössischen Jugendstil, das den Betrachter beim Öffnen des Buches in die Augen fällt, ist eine allegorisch-symbolistische Darstellung der Stadtgeschichte und der Traditionsbildung. Es zeichnet in der oberen Bildhälfte eine Verbindungslinie, die von Karl dem Großen zu Kaiser Wilhelm II. führt. In einem quer über das Bild verlaufendem Band sind die ersten Zeilen der lateinischen Karlshymne aus dem 12. Jahrhundert eingetragen: Urbs Aquensis, Urbs Regalis, Regni sedes Principalis, Prima Regum Curia (Aachen, Kaiserstadt, du hehre, / alter Städte Kron‘ und Ehre, / Königshof voll Glanz und Ruhm). In der unteren Bildhälfte zeigt das Aquarell eine Szene, in der der weiblichen Personifikation der Historie in der Mitte des Bildes drei Kinder, also die Vertreter einer neuen Generation, durch die ebenfalls weibliche Verkörperung der Stadt zugeführt werden. Das Aquarell stammt von Alexander Frenz, der Anfang des Jahrhunderts (bis 1909) an der Technischen Hochschule Aachen Figuren- und Landschaftszeichnen sowie Aquarellmalerei unterrichtete.

Bei den ersten Blättern des Goldenen Buches gibt es einige Auffälligkeiten. Die erste Eintragung stammt von Kaiser Wilhelm II. unter dem Datum 15. VII. 1902. In der Geschichte Aachens in Daten ist verzeichnet, dass der Kaiser-Besuch in der Stadt bereits am 19. Juni 1902 stattfand und es ein Festbankett im Kaisersaal des Rathauses gab, bei dem der Kaiser eine Rede hielt. Das Datum der Eintragung ins Goldene Buch und das Datum des Kaiser-Besuchs stimmen also nicht überein. Das neu geschaffene Goldene Buch war aber zum Zeitpunkt des Kaiser-Besuchs durchaus schon in Aachen vorhanden, allerdings wurde es noch nicht im Rathaus aufbewahrt. Aus dem Zugangs-Inventar des Suermondt-Museums geht hervor, dass das Goldene Buch im April 1902 im Suermondt-Museum eintraf und von dort im Dezember 1902 „ins Rathaus geschafft“ wurde. - Ferner ist es so, dass auf die Eintragung von Kaiser Wilhelm II. eine Original-Urkunde mit dem Datum vom 18. Oktober 1901 folgt, die die Enthüllung des Denkmals Wilhelms I. auf dem Theaterplatz in Aachen durch Kronprinz Wilhelm festhält. Diese Urkunde bezieht sich mithin auf ein Ereignis, das vor dem Besuch bzw. der Eintragung von Kaiser Wilhelm II. stattgefunden hat. Offenbar ist sie nachträglich in das Goldene Buch eingefügt worden.

Eintragungen in das Goldene Buch finden immer im Rahmen einer Zeremonie statt und werden als feierliche Handlungen inszeniert. Sie sind Dokumente einer wechselseitigen Auszeichnung: Die Gäste ehren die Stadt mit ihrem Besuch und ihrer Anwesenheit, die Stadt ehrt die Gäste mit der Bitte um den Eintrag ins Goldene Buch und verleiht damit dem flüchtigen Augenblick des aktuellen Geschehens eine dauerhafte Bedeutung. Für die Nachkommen sind die Eintragungen im Goldenen Buch ein Spiegel der Stadt- und Zeitgeschichte, ein Erinnerungsort, in dem die jeweiligen Wertschätzungen und Würdigungen niedergelegt sind. Das 20. Jahrhundert manifestiert sich darin als ein mit vielen Veränderungen, Umbrüchen und Abgründen angefülltes Zeitalter. Politisch gesehen umfasst es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Systeme des Kaiserreichs, der Republik und der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus, verbunden mit zwei verheerenden Weltkriegen, mit Revolutionen und Versuchen des Neubeginns, mit Zerstörungen gewaltigen Ausmaßes, mit höllischen Zeiten des Verfalls, der Verfolgung und Vernichtung. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist im Vergleich damit eine Epoche des Friedens und der Prosperität, in der es am Ende sogar gelingt, die Spaltung Deutschlands und Europas, die die Nachkriegszeit geprägt hat, zu überwinden. 

Den Eintragungen des Goldenen Buches kann man die historischen Brüche nicht ansehen, sie schreiten darüber mit stoischem Gleichmut und nivellierender Distanz hinweg. Es ist mithin an den Betrachtern und Lesern, die Eintragungen in ihre jeweiligen Zusammenhänge zu rücken und in das Licht zu stellen, von dem her sie zugänglich und verständlich werden. Wir stoßen beim Blättern im Goldenen Buch auf Vergangenheiten, die schon so weit weggerückt sind, dass sie bei uns kaum mehr als ein Achselzucken bewirken, oder auf Phasen unserer Geschichte, auf die wir zwar nicht stolz sein können, mit denen wir uns aber abfinden können und abfinden müssen. Wir werden aber auch mit jenem beispiellosen politischen und moralischen Zusammenbruch der deutschen Gesellschaft in den Jahren zwischen 1933 und 1945 konfrontiert, mit dem ein Sich-Abfinden schlechterdings unmöglich ist. Eine Reihe tonangebender Verbrecher des Nationalsozialismus ist in den Eintragungen des Goldenen Buches der Stadt Aachen vertreten, - es sind nicht sonderlich viele, und immerhin findet sich der Name Hitler darunter nicht. Ihm war zwar am 29. März 1933 die Ehrenbürgerwürde der Stadt verliehen worden, aber er hat Aachen nie besucht. 

Die Eintragungen gehen 1933 und dann nach dem Ende des Krieges weiter, als wäre nichts geschehen. Aber nach 1945 forderten die Eintragungen aus der Zeit der totalen Herrschaft des Nationalsozialismus dann doch zu einer besonderen Reaktion heraus. Nimmt man das Original des Goldenen Buches in Augenschein, erkennt man, was in der digitalen Fassung nicht erkennbar ist, dass vor der Eintragung von Göring vom 27. Juli 1933 ein Blatt herausgeschnitten worden ist. Von diesem herausgeschnittenen Blatt ist an der Einbindung links ein ca. 3 cm breiter Rand verblieben, so dass der Eingriff deutlich erkennbar ist. Dieses Blatt, auf dem, ohne Widmung und ohne Unterschrift, ein Hakenkreuz abgebildet war, ist 1950 auf Anordnung des damaligen Oberstadtdirektors Albert Servais von einem Kartographen aus dem Goldenen Buch entfernt und vernichtet worden. Im Zeitraum zwischen 1939 und 1950 gibt es keine Eintragungen. Auf die letzte Eintragung aus der NS-Zeit von Himmler 1939 folgen drei leere Blätter, bevor es dann mit den Eintragungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitergeht. 

Die Frage, die auf der Hand liegt und hier dem Leser zur eigenen Beantwortung überlassen bleibt, lautet: Sind die Entfernung des Hakenkreuz-Blattes und die drei leeren Blätter nach der letzten Eintragung aus der Zeit des Nationalsozialismus ein Zeichen überzeugender Distanznahme, des Abstands zur Zivilisationskatastrophe, die die Nazis in einem beispiellosen Akt der Fremd- und Selbstzerstörung der Welt, sich selbst und insbesondere den Juden bereitet haben, - oder sind sie ein Zeichen von Spurentilgung, Verleugnung und Verdrängung dieser grauenhaften Epoche der Zeit- und Stadtgeschichte? 

Eintragungen aus den fünf Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nehmen den weitaus größten Platz im Goldenen Buch der Stadt Aachen ein. Die erste Eintragung nach dem Krieg mit dem Datum vom 25. 1. 1950 stammt von Herbert von Karajan, der an diesem Tag mit den Wiener Symphonikern im Eden-Palast ein Konzert gab. Karajan war seit 1935 in Aachen als Generalmusikdirektor tätig gewesen und hat nach dem Krieg u.a. als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker eine Weltkarriere gemacht. Eintragungen von Ehrengästen aus dem Bereich der Kultur und Kunst sind jedoch eher die Ausnahme, - freilich Ausnahmen von großem Gewicht: Es finden sich darunter z.B. Zubin Mehta und das Israelische Philharmonieorchester im August 1998 oder der britische Schauspieler, Schriftsteller und Regisseur Sir Peter Ustinov, der seine Eintragung als UNICEF-Botschafter am 8. Mai 1998 mit einem in wenigen Strichen hingeworfenen Selbstporträt verziert. 

Die Eintragungen sind unterschiedlich gestaltet. Manchmal bestehen sie aus dem Namenszug, königliche Häupter zeichnen nur mit ihrem Vornamen (Kaiser Wilhelm und seine Frau Auguste Victoria, Königin Beatrix der Niederlande, Königin Sophia von Spanien), manchmal wird eine Sentenz hinzugefügt. Viele Unterschriften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind unleserlich oder nur mit Mühe entzifferbar. Seit 1950 werden in vielen Fällen die Namen in Druckbuchstaben wiederholt, und es werden – ebenfalls in Druckbuchstaben - die Anlässe der Eintragungen genannt.

Generell lassen sich die Eintragungen leicht den bedeutsamsten Bereichen des städtischen Lebens und herausragenden Ereignissen der Stadtgeschichte zuordnen. Regelmäßig sind die Karlspreisträger mit ihren Namenszügen vertreten, von Graf von Coudenhove-Kalergi am 18. Mai 1950 und Hendrik Brugmans am 3. Mai 1951 über Jean Monnet, Winston Churchill, Robert Schuman, Vaclav Havel, Jacques Delors u.a. bis Tony Blair im Mai 1999. Regelmäßig finden wir Eintragungen kirchlicher Würdenträger, die sich aus unterschiedlichen Anlässen in Aachen aufhalten. Empfänge von Delegationen der alle sieben Jahre stattfindenden Aachener Heiligtumsfahrten sind ebenso dokumentiert wie ein Empfang aus Anlass des Katholikentages in Aachen im September 1986. Wir finden internationale und nationale Gäste von politischem Rang und allgemeiner Prominenz, Eintragungen großer Aachener Persönlichkeiten, denen wegen ihrer besonderen Verdienste um die Stadt die Ehrenbürgerwürde verliehen wurde (Irene und Peter Ludwig, Kurt Pfeiffer, Hugo Cadenbach u.a.) oder die wegen ihrer besonderen Bedeutung für Aachen geehrt werden (z.B. Mr. Walker Hancock, ehemaliger Captain und Kunstschutzoffizier der 1. Amerikanischen Armee). Eine der berührendsten Eintragungen dokumentiert den Empfang früherer Aachener Juden im April 1992, bei dem sich der mit 92 Jahren älteste Teilnehmer der Gruppe stellvertretend für die 203 Besucher in das Goldene Buch jener Stadt einträgt, aus der sie einst wegen der nationalsozialistischen Verfolgung fliehen mussten. Ferner finden wir Eintragungen prominenter und erfolgreicher Gäste bzw. Amtsinhaber aus den Bereichen der Wissenschaft (z.B. Empfang aus Anlass der Westdeutschen Rektorenkonferenz und des Hochschulverbandstages im Mai 1957), des Sports (z.B. die Tanzweltmeister in den Latein-Formationen des TSC Schwarz-Gelb Aachen) und immer wieder natürlich aus Anlass wichtiger Ereignisse der Stadtgeschichte (z.B. der Empfang anlässlich der „Verschwisterung der Städte Reims und Aachen“ am Karlsfest 1967). 

Alles in allem ist das Goldene Buch ein Kaleidoskop der Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts. Mit der hier vorgelegten Digitalisierung kann sich nun jeder Interessierte ein Bild vom Inhalt des Buches machen und zu einem eigenen Urteil darüber kommen.

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1 Diese Angaben beruhen auf Informationen, die mir dankenswerterweise von Alexander Lohe, Fachbereichsleiter und Persönlicher Referent des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, im Januar 2017 gegeben worden sind.