Grabungen am Marienturm belegen, dass das mächtige Bauwerk die ehemalige Aula Regia noch bis ins hohe Mittelalter hinein umgab. Römische Meilensteine sollen weitere Aufschlüsse geben. Funde reichen bis in die Keltenzeit hinein.
Von Matthias Hinrichs
Aachen. Von wegen Schnee von gestern: Auch im Karlsjahr 2014 hageln quasi weiter ungeahnte Neuigkeiten im Hinblick auf Aachens Historie auf die Experten ein (siehe auch Bericht auf der Titelseite). Auch wenn die naturgemäß von ganz unten kommen. „Wir sind mehr als froh, dass wir der Archäologie seit einiger Zeit einen so hohen Stellenwert eingeräumt haben“, sagte Oberbürgermeister Marcel Philipp gestern Mittag, während er mit einem Fuß schon fast in der kleinen, aber umso bedeutungsvolleren Baugrube direkt am Marienturm des Rathauses stand. Und Stadtarchäologe An-dreas Schaub nickte im frohen Einvernehmen mit dem OB, als der von „absolut sensationellen Erkenntnissen“ sprach.
Fünf Meter breit, acht Meter hoch
Im Zuge der aktuellen Sanierungsarbeiten nämlich haben die Forscher jetzt eindeutig nachweisen können, dass Karls Königshalle, auf deren Fundament das Rathaus errichtet worden ist, noch bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts zumindest teilweise von einer imposanten römischen Wehrmauer umgeben gewesen ist.
Das imposante Bauwerk verlief hinter der Rückfront mitten über den Katschhof und mindestens bis zur heutigen Häuserzeile gegenüber dem Rathaus. „Die fünf Meter breite und bis zu acht Meter hohe Schutzmauer befand sich also inmitten der karolingischen Pfalzanlage“, erklärte Schaub.
Denn bei ihren Arbeiten am Fuß des Marienturms konnten die Experten bereits vor einiger Zeit belegen, dass der heutige Kernbereich des Marktes lange nach der Franken-Ära aufgeschüttet worden ist – Karl und seine Zeitgenossen waren also im Wortsinn auf einem Niveau unterwegs, dass etwa zwei Meter tiefer lag als das heutige Pflaster. „Die römischen Mauerreste, die wir gefunden haben, überragen die Erdschichten aus dem 8. Jahrhundert um bis zu 70 Zentimeter“, erläuterte Schaub. „Damit ist klar, dass die Mauer erst später abgetragen worden sein kann.“ Anhand von tausenden mittelalterlichen Scherbenfunden lasse sich sagen, dass dies erst vor rund 800 Jahren erfolgt sei.
So können die Experten sich erst jetzt einen spruchreifen Reim machen auf eine Entdeckung, die bereits um 1910 in die Stadt-Annalen eingegangen ist. Seinerzeit nämlich spürte man gleich neben dem Marienturm, wo sich noch im 19. Jahrhundert eine Apotheke befand, Überbleibsel eines großen römischen Torbaus auf, der Bestandteil der besagten Maueranlage gewesen sein dürfte. Damit nicht genug: Ferner wurden Reste einer römischen Straße aus typischem Blau- und Feuerstein entdeckt, die unmittelbar vor dem heutigen Rathaus verlief – und nicht etwa, wie seit langem angenommen, etwa 15 Meter weiter nordwestlich und damit ziemlich genau auf Höhe der heutigen Jakobstraße.
Die Forscher gehen davon aus, dass die Mauer nach den ersten Überfällen der Germanen auf die römische Siedlung Aquis Grana anno 275/76 nach Christus gebaut worden ist. Ein römisches Badehaus, das sich in unmittelbarer Nähe des Rathauses befand, wurde dabei zerstört. Bei der Errichtung des Bollwerks (mitsamt einem Wassergraben, der bereits im 6. Jahrhundert zugeschüttet wurde) verwendeten die Römer unter anderem Teile von Steinsäulen, die als Meilensteine gedient hatten.
Suche nach Inschriften
„Wir hoffen, dass wir bald Inschriften in diesen Wegmarken identifizieren können, die Auskunft über die Entfernung zur jeweiligen Provinzhauptstadt gaben“, sagte Schaub. „Damit ließe sich ermitteln, ob Aachen seinerzeit zur belgischen oder zur germanischen Provinz gehört hat – oder ob die Stadt vielleicht sogar selbst eine solche Hauptstadt gewesen ist.“
Dass die Römer auf dem heutigen Markt neben einem Badehaus auch eine Art Latrine vorfanden, ist im Übrigen durch eine Fülle weiterer Funde aus der Spätantike belegt – etwa einem Spielstein und Teilen von Geschirr. Schaub und seine Kollegen haben sogar über 2000 Jahre alte Keramikbruchteile gefunden, die darauf hindeuten, dass bereits die Kelten vor Christi Geburt in größerem Stil in Aachen gesiedelt haben könnten. Sozusagen Schnee von vorgestern, der den Wissenschaftlern freilich weitere prickelnde Erkenntnisse über die exakten Ursprünge der Kaiserstadt bescheren könnte.
Artikelquelle: Aachener Zeitung